Musica Sacra Juni 2014
Zum Raumbezug beim Chorsingen
Erwartungsfrohe Augen leuchten zu Beginn eines Chorworkshops. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kommen aus verschiedenen Chören, haben in dieser Besetzung noch nie zusammen gesungen. Schon beim ersten Ton zeigt sich ihre Begeisterung für das Singen, für ihren Wunsch, Neues zu erfahren. Heute soll ein Ansatz erarbeitet werden, in dessen Zentrum das Hören steht. Die Verfeinerung des Hörens wird – so der Ansatz – das Musizieren verbessern und den Ausdruck intensivieren. Das wollen wir heute ausprobieren. Dazu gehen wir den Vorgang des Musizierens in kleinen und feinen Schritten durch.
Nachdem wir leise den Akkord angesummt haben, lassen wir Ruhe eintreten. Wir erschaffen uns einen Raum, öffnen uns für Tönendes und hören den Ton und das Stück voraus. Diese drei Schritte sind es, die eine Verbindung aufbauen zu uns selbst, zu den Zuhörenden und zum Gehalt der Musik. Dann erfolgt, genau zum richtigen Zeitpunkt, der sich aus dem Vorangegangenen ergibt, das tatsächliche Erklingen des ersten Tons. Mit einem kleinen Ruck, einem kurzen Geräusch, öffnen sich die Stimmbänder und wird die Luftsäule zum Schwingen gebracht. Der Ton beginnt sich zu formen und breitet sich schnell im vorbereiteten Raum aus. Zugleich schwingt er in uns, erfüllt uns. Am Ende verklingt der Ton, sinkt unter die Schwelle der feinen Alltagsgeräusche des Konzertraumes und klingt schließlich nur noch in mir. In der Stille schwingt er nach, bis ich ihn loslasse und er mich. Und Ausführende und Zuhörer bleiben verändert, gesammelt und bereichert zurück.
Das Göttliche in der Musik individuell ausdrücken
Wenn dieses Erleben von Musik, gerade auch von geistlicher Musik, unsere Vision ist, sollten wir den Menschen ernst nehmen in seinem tiefsten Anliegen, sich singend musikalisch betätigen zu wollen und damit seiner Seele Ausdruck zu geben. Ernst nehmen dürfen wir auch die Scheu, dies solistisch zu tun, oder den Wunsch, in einer Gemeinschaft Gleichgesinnter agieren zu wollen. In und trotzt der Gruppe bleiben die singenden Menschen Persönlichkeiten mit ihrem individuellen Vorgehen und ihrem einzigartigen Stimmklang, die im Zusammenspiel gerade diesen Chor in diesem Moment ausmachen. Und diese Individualität sollten wir fördern.
Man möchte kaum glauben, dass diese Vision funktioniert, dass eine eigenständige Interpretation durch jedes einzelne Chormitglied eine intensive emotionale Dichte transportieren kann. Das berühmte Antoine de Saint-Exupéry zugeschriebe Bild passt hervorragend: „Wenn Du ein Schiff bauen willst, so trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten endlosen Meer.“ Die Sehnsucht nach dem weiten endlosen Meer steht hier für den Wunsch des Menschen, das in der Musik erahnte Göttliche hörbar zu machen und damit die eigene Herzensbewegung mit den Zuhörenden zu teilen. Wenn das unser Ziel ist, müssen wir nach neuen Wegen suchen.
Sängerische Kompetenz durch verfeinertes Hören
Was können wir nun tun? Ich möchte die folgenden Schritte und Vorschläge verstanden wissen unter der Voraussetzung, dass der Chor ein Werk singen kann. Das Entscheidende auf dem hier skizzierten Weg ist die Verfeinerung der Wahrnehmung. Das Ohr als das wichtigste physische Wahrnehmungsorgan des musizierenden Menschen steht deshalb hier im Vordergrund.
Eine neue Art des Hörens hängt wesentlich damit zusammen, dass die singende Person sich selbst gut hören kann. Dies geschieht am einfachsten dadurch, dass die Chormitglieder mit großem Abstand zueinander stehen, was übrigens auch das Erleben für das Publikum wesentlich verbessert (vergleiche die in diesem Heft abgedruckte Untersuchung von James F. Daugherty). Ich persönlich bevorzuge zugleich auch noch eine Mischung der Stimmen, d.h., niemand steht neben, vor oder hinter einem Mitglied seiner eigenen Stimme. Allein diese beiden Schritte, möglichst großer Abstand zu den anderen Singenden und zu den Mitgliedern der eigenen Stimme, wird Wesentliches verändern. Der Einzelne wird so singen, dass er sich selber wahrnehmen kann, er wird eigenständiger singen und es kaum noch schaffen, sich an die so genannten Stimmführer anzuhängen. Im nächsten Schritt kann man dann die Chorstimmen allein singen lassen, damit der einzelne die anderen Mitglieder seiner Stimme im Raum orten kann. Gelingt diese Wahrnehmung der Mitglieder der eigenen Stimme auch im Gesamtklang?
Modifiziertes Hören als Grundlage
Um die Ohren auf den Gesamtklang auszurichten, setzt man die flachen Hände senkrecht vor die Ohren. Damit schirmt man einerseits den Klang der eigenen Stimme ab, andererseits leitet man den hinter einem entstehenden Klang verstärkt in die Ohren, also das Echo des gesamten Klanges an der dort befindlichen Wand. Das Ohr steuert das Singen nun über ein anderes als das gewohnte Signal und passt es sowohl an den Raum als auch an die anderen Musizierenden optimal an. Hören Sie den Unterschied?
Das Hören kann durch die Wahrnehmung des Vibratos sehr verfeinert werden. Ein Vibrato stellt sich ja bekanntlich ein, wenn die Stimme funktionell richtig schwingt und weitere Faktoren wie Flexibilität des Körpers etc. gegeben sind (Es geht hier nicht um ein ästhetisches Ideal des Singens mit oder ohne Vibrato, sondern um die Funktion der Stimme). Haben Sie schon einmal erlebt, wie sich ein langsames Chorstück über das Vibrato selbst organisiert? Der Zeitpunkt von Konsonant- und Vokalartikulation wird präzise auf die gemeinsame Vibratoschwingung bezogen, Crescendo, Decrescendo und Akzente die werden so ausgeführt, dass das Vibrato nicht gestört wird und auch die Atempause oder Pausen des Werkes haben ihren Bezug zur Vibratoschwingung. Das Beeindruckende ist, dass wir ein Vibrato nicht machen können, sondern nur wahrnehmen, wenn es sich einstellt. Wir verfeinern damit auch hier die Wahrnehmung und stärken unsere Intuition beim Musizieren.
Der richtige Zeitpunkt
Man darf sich immer wieder vor Augen führen, dass sich das rhythmische Empfinden des singenden Menschen auf den Zeitpunkt des Erklingens eines Vokals bezieht und nicht auf den zuvor artikulierten Konsonanten. Experimentieren Sie mit diesen Faktoren. Zwei Personen stehen sich gegenüber, artikulieren einen bekannten Zungenbrecher und beobachten dabei ihre Lippen und Mundbewegungen. Was geschieht, wenn eine der beiden Personen die Bewegungen um Bruchteile von Sekunden früher macht als die andere Person? Wie klingt die Stimme im Raum, wie fühlt sich die Person, welche Ausstrahlung hat sie? Lassen sich die Rollen umtauschen, dass die andere Person führt? Lässt sich diese Steuerung auch mit geschlossenen Augen erzeugen? Wie funktioniert dies beim Singen, zu zweit, zu dritt, in der eigenen Chorstimme?
Wenn die Ohren für die Wahrnehmung dieser kleinen zeitlichen Differenzen geschult sind, wird man hiermit sehr leicht die Klangbalance im Chor ordnen können, auch in großen Räumen. Die führende Stimme darf ihre Konsonanten und Vokalbewegungen um Sekundenbruchteile früher ausführen als der Rest des Chores und wird damit automatisch im Raum präsenter sein, ohne lauter zu singen. Das Publikum nimmt sie als führend wahr. Lassen Sie auch ein einzelnes Mitglied einer Stimme mit dem gesamten Chor singen. Die einzeln singende Stimme kann jetzt durch eine präsentere Artikulation führen ohne dass die anderen Sängerinnen und Sänger sich wesentlich zurücknehmen müssten.
Brillanz und Sonorität
Richten Sie Ihre Ohren auf die Brillanz und Sonorität der Stimmen. Lassen Sie die Chorsängerinnen und Chorsänger die Obertöne hören, indem sie zum Beispiel in mittlerer bis tiefer Lage auf einem Ton die Vokalfolge A E I Ü U und zurück singen. Lassen Sie die Frauen hören, wie es bei den Männern klingt, und umgekehrt. Wie verändert sich der Obertonreichtum durch modifiziertes Hören? Wie verändert sich die Sonorität im Raum durch kleine abwechselnde Bewegungen der Knie und damit eine größere Flexibilität im unteren Rückenbereich? Welche Klänge entstehen, wenn Sängerinnen und Sänger mit dem Rücken an der Wand stehen in der Weise, das Becken, Schultern und Kopf beim Singen an der Wand bleiben und der ganze Körper während einer Phrase um 10 cm herunterrutscht? Und welche Farben bekommen Sonorität und Brillanz, wenn die Chorsängerinnen und Chorsänger Rücken an Rücken stehen und versuchen, sich im räkelnden Kontakt von Becken, Schultern und Kopf mit sanftem Druck wegzuschieben? Wie lässt sich dieser körperliche Impuls auf das Singen im normalen Stehen übertragen? Wechseln Sie ein paarmal hin und her und beobachten Sie, wie gut der Körper in der Vorstellung des Rückenkontaktes singen kann.
In seiner Mitte sein und das Echo des Raumes wahrnehmen
Alle dargestellten Übungsschritte haben die Wahrnehmung für sich selber, für die Mitsingenden und den Raum verfeinert. Machen Sie jetzt bitte ein Experiment. Der Chor steht in einem großen Kreis. Er organisiert das gemeinsame Musizieren über die Augen, die die Mundbewegungen des Gegenübers beobachten. Nun bitten Sie die Chorsängerinnen und Chorsänger parallel dazu nach hinten zu hören, gerne auch mit dem modifizierten Hören. Der singende Mensch nimmt nun also den vorderen Raum über die Augen und den hinteren Raum über die Ohren wahr. Wie verändert sich das Singen? Wie verändert sich die Interpretationspräsenz? Lassen Sie die Übung auch mit geschlossenen Augen machen.
Jetzt erspüren Sie den vorderen Raum über eine Zone, die die beiden Schlüsselbeine und den oberen Bereich des Brustbeins umfasst, und den hinteren Raum über den Rücken. Helfen kann die Vorstellung, dass sich Ihre Ausstrahlung kugelförmig um Ihren Körper herum ausdehnt. Wenn Sie nun singen, steht der Mensch im Mittelpunkt seiner Wahrnehmung. Das Klangergebnis und vor allem das Erleben wird tiefergehend sein. Probieren Sie dies mit Ihrem Chor in großen Räumen aus. Lassen Sie Ihre Sängerinnen und Sänger ihre eigene Stimme im Echo von der Rückwand des Saales wahrnehmen. Durch die Intensivierung der Wahrnehmung über Ohren und Körperempfindung wird sich ein völlig anderes Musizieren ergeben. Das macht viel mehr Freude, bezieht den Menschen in seiner ganzen Wesenheit ein und bringt den in der Musik angelegten göttlichen Funken sehr viel stärker zum Tragen. Die Seelen der singenden und hörenden Menschen können jetzt miteinander schwingen.
Kernsätze
- Mit genügend Abstand zu den anderen Sängern kann sich der Chorsänger selbst gut hören und damit besser singen.
- Die gemischte Aufstellung (keiner singt neben einem Mitglied seiner eigenen Stimme) fördert das selbstständige Singen.
- Das modifizierte Hören (flache Hände senkrecht vor die Ohren gestellt) ermöglicht, sich an den Raum optimal anzupassen und sich selbst im Gesamtklang genauer wahrzunehmen.
- Die Wahrnehmung der gemeinsamen Vibratoschwingung ermöglicht ein feineres und genaueres Musizieren.
- Präzise und zeitlich genaue Artikulationsbewegungen ermöglichen eine verbesserte rhythmische Präzision und eine bessere Klangbalance des Chores.
- Mit dem Lauschen auf Brillanz und Sonorität passt man die Stimme zusätzlich genauer an den jeweiligen Raum an.
- Das Hören der eigenen Stimme im Echo von der hinteren Wand des Saales ermöglicht dem Sänger ein eigenverantwortliches und aktiv interpretierendes Singen.