… in 20 Jahren noch gebraucht?

Musica Sacra, Januar 2014

Ein gutes System mit 920 Musikschulen in Deutschland

Zu häufig haben wir es schon gehört: „Was sind Musikschulen für tolle Einrichtungen!“ „… unverzichtbar“, „… nicht mehr wegzudenken“ oder „… bereichern unsere kulturelle Landschaft“. Abgesehen davon, dass in „nicht wegzudenken“ oder „unverzichtbar“ zugleich auch „wegzudenken“ und „verzichtbar“ mitgedacht wird, transportieren diese immer wieder rezitierten Beschwörungsformeln auch eine Schattenseite. Ja, wir haben ein bewundernswertes System der Musikschulen in Deutschland. 920 Musikschulen des Verbandes deutscher Musikschulen VdM an ca. 4000 Standorten, in denen regelmäßig 1,3 Mill. Schüler für die Musik begeistert werden (und pro Schule ca. 110 Schüler auf einen Platz warten), darauf darf man mit Stolz blicken.

Es gibt aber auch Schwachstellen.

  • Zu Recht wird die Unverbindlichkeit des Systems angeprangert, denn Musikschulen sind in den allermeisten Fällen so genannte freiwillige Leistungen der Kommunen, Städte und Landkreise, d.h., die für sie in den öffentlichen Haushalten ausgewiesenen Mittel stehen in Zeiten knapper Finanzen auf dem Prüfstand.
  • Zu Recht verweisen auch die Musikschullehrer selbst auf ihre in zweierlei Hinsicht missliche Lage: wenn sie denn (wie in einer krassen Minderzahl der Bundesländer) überhaupt eine Festanstellung haben, sind sie nach TVöD 9 eingestuft, der niedrigsten Entgeltgruppe für Arbeitnehmer mit Bachelor oder Diplom. Die weitaus größere Zahl der Musiklehrer ist über so genannte Honorarverträge beschäftigt (keine Fortzahlung im Krankheitsfall, keine Rentenversicherung etc.). Eine nachhaltige pädagogische Arbeit ist unter diesen Bedingungen sehr erschwert.
  • Eine weitere Schwachstelle ist die Tatsache, dass Flächendeckung noch lange nicht erreicht ist. Abseits der großen Ballungszentren ist es für Kinder und Jugendliche nur unter größtem Aufwand und in vielen Fällen gar nicht möglich, ihre musikalische Begabung zu fördern.
  • Und schließlich: die Forderung, der Besuch der Musikschule solle unabhängig vom sozioökonomischen Hintergrund der Familien möglich sein, ist schlichtweg unrealistisch. Einerseits braucht es einen (Groß-)Elternteil, das die Kinder regelmäßig in die Musikschule begleiten kann, andererseits braucht es eine über dem Durchschnitt liegende Finanzausstattung der Familie. Man darf sich fragen, wie ein Musikschullehrer seinen Kindern den Instrumentalunterricht von seinem TVöD 9-Honorar bezahlen soll. Seine Eltern konnten das für ihn, denn sonst hätte er den Beruf nicht ergreifen können.

Auf der anderen Seite gibt es eine Fülle von Begründungen für eine kulturelle und musikalische Ausbildung der Kinder und Jugendlichen. Eine Grundschuldirektorin sagte mir, dass ihre in einer Problemzone der Stadt liegende Schule sehr von musikalischen Aktivitäten profitiere. Wenn in den Klassen gesungen werde, so berichtete sie, verändere sich nachhaltig die Sozialstruktur zum Positiven. Andererseits belegen Untersuchungen, dass intensive musikalische Aktivitäten die Intelligenzentwicklung, Zielstrebigkeit etc. positiv beeinflusse. Hiermit zu argumentieren und wegen der Förderung des Sozialverhaltens und der Entwicklung der persönlichen Kompetenzen eine Intensivierung des Musik(schul)unterrichtes zu fordern, halte ich aber für zu kurz gegriffen. Kultur ist nicht dazu da, die Menschen fit fürs Arbeitsleben zu machen. Kulturelle Betätigung ist ein grundlegendes Bedürfnis des Menschen. Kultur ist Lebensqualität und deren Förderung in den Landesverfassungen verankert.

Musik, Genialität und Führungsqualität

Wir wissen, dass der Kernphysiker Werner Heisenberg neben seinen Forschungen Beethovens Klavierkonzerte auswendig lernte. Helmut Schmidt, klavierspielender Bundeskanzler, war ein Förderer der Kunst und rief u.a. die Big-Band der Bundeswehr ins Leben. Niels Bohr soll das Geld, das er 1922 für den Nobelpreis in Physik bekam, für einen neuen Flügel verwendet haben. Und wir wissen, dass Albert Einstein fast immer mit seinem Geigenkasten unterm Arm gesehen wurde und dass er beim Geigespielen und Improvisieren Zuflucht suchte (er soll sogar bei einer Vorlesung in Prag Mozart gespielt haben, anstatt über Physik zu reden). Die musikalische Betätigung war für diese genialen Menschen nicht angenehmer Zeitvertreib, sondern intensiv gelebter Bestandteil ihres Lebens. Auf dem Hintergrund unserer kulturellen Tradition waren sie in der Lage, unerschrocken Neues zu denken und bahnbrechende Denkmodelle zu Papier zu bringen und/oder in die Tat umzusetzen. Sie hatten sich seit ihrer Kindheit intensiv mit dem Erlernen eines Musikinstrumentes beschäftigt. Und sich damit eine geistige und emotionale Unabhängigkeit erworben, die ihre Genialität und Führungsqualität förderte, ja ich möchte behaupten, teilweise überhaupt erst ermöglichte.

Warum erzähle ich Ihnen dies alles? Wenn wir über die Zukunft der Musikerziehung und der Musikschulen nachdenken, brauchen wir einen Begründungszusammenhang, der weit über Nützlichkeitserwägungen hinausgeht. Wir brauchen eine Vision. Diese Vision könnte sein, dass kulturelle Erziehung neben sportlichen Aktivitäten die Persönlichkeitsentwicklung der Menschen wesentlich positiv beeinflusst. Ich meine damit, dass ein Jugendlicher, der täglich intensiv sein Instrument übt und erlebt, dass er sich dabei ständig verbessert, in Konzerten auftritt, bei Wettbewerben gewinnt und in Orchestern gemeinsam mit anderen musiziert, dadurch eine intensive Wahrnehmung seiner eigenen Fähigkeiten erfährt. Diese Stärkung des Selbstwertgefühls und das Vertrauen in die eigene Kompetenz ermöglichen einen selbstbestimmten Lebensweg. Eine in sich ruhende Person, die aus der eigenen Erfahrung weiß, dass langfristiges Engagement und konzentriertes Arbeiten zu Erfolgen führt, wird einen anderen beruflichen und lebenspraktischen Weg nehmen, als jemand, der ausschließlich auf Klassenarbeiten und Abfragen hin fremdbestimmt und kurzfristig lernt.

Zukunftsfähigkeit aufgrund kultureller Bildung

Wenn also Bildung meint, dass der Mensch an Körper, Geist und Seele gebildet wird, damit er auf die wechselnden und unvorhersehbaren Anforderungen der Zukunft überlegen reagieren kann, dann ist kulturelle Erziehung unter einem viel weiteren Blickwinkel zu sehen. Musik, kulturelle Aktivitäten und Sport sind dann nicht mehr das Sahnehäubchen auf der Pädagogik, sondern deren Grundvoraussetzung. Musikschularbeit ist dann ein Bestandteil des gesamten Bildungssystems, die Kompetenz der Musikschulen wird in einem in dieser Weise visionär gedachten System in die öffentlichen Schulen zu integrieren sein. Modelle hierfür gibt es ja bereits, denken wir an Bläserklassen, Singklassen und Streicherklassen, an gemeinsam von öffentlicher Schule und Musikschule getragene Orchester und Chöre u.v.a.m. In England wurde an öffentlichen Schulen bis in die Neunzigerjahre hinein der instrumentale Einzelunterricht in einem rotierenden System erteilt, so dass für die Schüler wöchentlich wechselnd eine andere Stunde des Klassenunterrichts ausfiel. Besonders weit vorangeschritten ist die Stadt Hamburg, in der 50 Musikschulkräfte in 65 öffentlichen Grundschulen elementaren Musikunterricht erteilen und so die musikalische Bildung breit anlegen. Um die positiven Auswirkungen dieser Beispiele allen Kindern unseres Landes zugute kommen zu lassen, braucht es allerdings eine Verankerung in den Strukturen des Bildungssystems, was in Hamburg übrigens mit einem Gesetz über die Verlässliche Halbtagesgrundschule geschehen ist.

Darf man also hoffen, dass es in 20 Jahren keine Musikschulen mehr geben wird? Werden die besonderen inspirierenden Qualitäten der Musikschulen und ihrer Lehrerinnen und Lehrer dann in das öffentliche (Ganztages-)Schulsystem integriert worden sein? Und wird diese Schule der Zukunft allen Kindern eine musikalisch-kulturelle Entwicklung auf hohem Niveau ermöglichen? Damit in unserem Land auch in Zukunft Menschen heranwachsen und leben, die die Unternehmen, die Kultur, die Politik und die Lebensqualität nachhaltig befördern: selbstständig handelnde und empfindende Persönlichkeiten und kluge und unabhängig denkende Köpfe.

 

Kernsätze

  • 920 VdM-Musikschulen erreichen an ca. 4000 Standorten 1.3 Mill. Kinder, Jugendliche und Erwachsene
  • Als „freiwillige Leistungen“ der Länder und Kommunen sind sie nicht nachhaltig finanziell gesichert
  • Nicht erreicht: Flächendeckung, einheitliche soziale und finanzielle Absicherung der Lehrkräfte, Besuch unabhängig vom Geldbeutel der Eltern
  • Kulturelle Betätigung ist grundlegendes Bedürfnis des Menschen und in vielen Fällen die Voraussetzung für überdurchschnittliche und geniale Leistungen
  • In einem Bildungssystem, das Körper, Geist und Seele im Blick hat, könnten die Musikschulen mit ihren Qualitäten in das öffentliche Schulsystem integriert werden

Musica Sacra 2014-1