Mutiger Freilegungsprozess – des Eigentlichen, das schon da ist

Juliane ist 31 Jahre alt und schwanger. Sie möchte sich in der Zeit ihrer Freistellung einen langgehegten Wunsch erfüllen und sich um ihre Gesangsstimme kümmern. In der Schule hat man ihr beim Vorsingen immer gesagt, sie solle doch lieber den Rhythmus klopfen und im Chor durfte sie schon gar nicht mitsingen. Sichtlich hin- und hergerissen zwischen ihrem starken Wunsch, sich um ihre Singstimme zu kümmern, und den niederschmetternden Beurteilungen in der Kinder- und Jugendzeit, kommt sie zum Unterricht. „Kann denn jeder Mensch überhaupt singen? Nützt es bei mir in meinem fortgeschrittenen Alter überhaupt noch etwas? Und wenn es schon in der Jugend nicht so gut ging, hat es dann überhaupt noch Zweck sich jetzt darum zu kümmern?“ Das sind ihre bewegenden Fragen.

Als ich ihr sage, dass wie bei allen Begabungen auch hier eine gauß’sche Kurve vorliegt, d.h. einige wenige sind völlig unbegabt, einige wenige hochbegabt und in der Mitte gibt es ein breites Feld mit großem Entwicklungspotenzial, entspannt Sie sich sichtlich. Und als ich dann noch hinzufüge, dass im Körper alles angelegt ist, alle Bewegungsformen, alle Reaktionsmuster und Steuerungsmechanismen, und dass wir im Unterricht eigentlich nur noch deren Freilegung betreiben, lächelt sie sogar.

Wir beginnen zu arbeiten. Singen eine einfache Tonfolge im unteren Drittel der Stimme auf die Vokale A O A O. Ich mache vor, sie darf hören. Einmal benutze ich für das O eine allgemeine Rundung der Lippen, das zweite Mal eine Steuerung dieser Rundungsbewegung von den Mundwinkeln her, indem ich Zeigefinger und Daumen in die Mundwinkel lege. Das Ergebnis ist für sie deutlich hörbar: „Funktioniert das bei mir auch?!?“ Nach einigen Versuchen klappt es wunderbar. Wir verbinden das Ganze mit einer kleinen Flexibilitätsbewegung, in der der Kopf sich ein wenig hebt, während der Kiefer beim A auffällt. So ist die Öffnungsbewegung effizienter und die Flexibilität des gesamten Körpers wird unterstützt. Auch dies ist für sie sofort hörbar und nachvollziehbar und so geht es in kleinen Schritten weiter. Ein richtig beeindruckendes Erlebnis hat sie, als sie die Kopfbewegung zeitlich genau mit dem Vokalklang koordiniert, d.h., solange das A klingt macht der Kopf eine leichte Aufwärtsbewegung, während das O klingt sinkt er sanft zurück. So ist eine körperliche Flexibilitätsbewegung gekoppelt mit dem Klang. „Das klingt ja toll, ganz viel Vibration im Innern!“

Juliane erinnert sich völlig fasziniert an meine einleitenden Worte, dass der Unterricht nicht ein Neu-Lernen, sondern „nur“ ein Freilegungsprozess vorhandener Funktionen ist. Das hat sich für sie in diesen wenigen Schritten der ersten Stunde sofort offenbart und bewahrheitet. Dank der Beruhigung des Bewusstseins und der Anerkennung des demütigenden Erlebnisses während der Schulzeit ohne Schuldzuweisung an die entsprechenden Lehrpersonen konnte sie  mit großer Entspannung einerseits und gesammelter konzentrierter Wachsamkeit andererseits die Prozesse wahrnehmen und mitverfolgen und damit immer weiter verfeinern. Auf der Türschwelle sagt sie beim Abschied: „Ich fühle mich viel mehr in meinem Körper und bin total begeistert. Und sehr sehr dankbar dafür, den Mut aufgebracht zu haben, hierher zu kommen!“

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