Musica sacra November 2016
oder: das jungfräuliche Ohr des Zuhörers
Der Chor kommt ruhig und geordnet. Die Sängerinnen und Sänger sind elegant gekleidet. Es verstummen die leisen Gespräche im Publikum, Ruhe tritt ein. Die Ohren, den ganzen Tag mit Geräuschen, unerwünschter Musikberieselung und Gesprächen beschäftigt, finden zu feiner Aufmerksamkeit zurück und öffnen sich für die erwarteten Klänge. Es ist, als ob das Publikum mit seinem Lauschen einen Raum vorbereitet. Durch diese Verfeinerung der Wahrnehmung tritt jeder in einem engeren Erlebenskontakt mit sich selber, mit den Ausführenden und dem Gehalt der Musik, schon bevor der erste Ton erklingt. Der Dirigent sammelt sich, hebt die Arme und lässt die Musik beginnen, genau im richtigen Moment, der sich aus dem Vorangegangenen ergibt. Anton Bruckners Locus iste füllt den Raum. Die Schwingungen werden von den großen Wandflächen und Deckengewölben wie in Kristallspiegeln tausendfach reflektiert. Man lässt sich hineinsinken in die Klangwelten, sich ganz erfüllen. Schließlich verklingt der Schlussakkord, sein Nachhall verblasst weich in den Alltagsgeräuschen, die leise durch die Kirchenfenster drängen. Ausführende und Zuhörende finden sich gesammelt und erfüllt, ja fast verklärt. Nach einer langen Pause, in der die Musik ausatmen darf, setzt der Beifall ein.
Diese Beschreibung des Musikerlebens ist vielleicht etwas euphorisch und visionär. Aber sie zeigt, was möglich ist, wenn wir uns einer Sache voll und ganz widmen und uns tief empfindend auf sie einlassen. Dabei spielt jedes Detail eine Rolle. Hier soll es jetzt um den Anfang gehen, darum, wie ein Chor seinen Anfangston findet.
Der erste Ton
Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Harmonie eines Chorwerkes vor dem eigentlichen Beginn der Musik im Raum erklingt. Nur einige sorgfältig arbeitende Ensembles nehmen diesen Punkt ernst und ermöglichen es den Zuhörern, die Qualität der Tonart eines Werkes neu zu erfahren, indem sie die Tonangabe unhörbar fürs Publikum gestalten. Sie möchten damit erreichen, dass die Tonart des Werkes genau wie alle anderen Faktoren auf das Auditorium wirken kann. Denn die Tonart hat einen entscheidenden Einfluss auf unser Musikerleben. Und dies nur dann, wenn Tonart und Musikstück zeitgleich neu die Ohren des Publikums erreichen. Stellen Sie sich doch einmal das O Fortuna der Carmina Burana von Carl Orff vor, wenn der Chor vorher seine Töne ansummt!
Der Chor
Zu Beginn eines Konzertes ist es relativ einfach, den Ton zu finden, denn man summt bzw. singt den ersten Ton draußen an. Während des Auftretens hat man das Musikstück und seine Aussage bereits im Bewusstsein. Damit dürfte es dem Publikum auch sehr viel leichter fallen, die oben beschriebenen Prozesse des sich-Einstimmens auf die Musik zu erleben. Wenn nun der Dirigent kommt und die Intensität der Sammlung sich noch einmal steigert, wird das Musikstück in seiner ganzen Tiefe zum Ausdruck kommen können. Derselbe Vorgang läuft dann während des Konzertes ab, wenn die Chormitglieder sich von der Stimmgabel oder von ihren Nachbarn den neuen Ton abnehmen, während das Publikum applaudiert.
Die Art und Weise, wie ein Chor zu seinem Ton kommt, hängt also zusammen mit dem Bewusstsein der einzelnen Chormitglieder und des Dirigenten für die Gestaltung des Konzertes. Die innerliche Vorbereitung bestimmt z.B. auch die Körperspannung, die für das Erzeugen eines bestimmten Tones notwendig ist. Ein frühzeitiges Ansingen des Tones dient damit der Intensität der Interpretation in mehrerlei Hinsicht. Hinzu kommt, dass der einzelne Singende auch selbst das Musikstück neu erlebt, wenn er nicht vorher den ersten Akkord raumfüllend gehört hat. Er kann so von dem göttlichen Funken in der Musik ergriffen werden und diese Ergriffenheit mit den Zuhörern teilen.
Der Dirigent
Der Dirigent tritt vor den Chor in dem Bewusstsein, dass die Sängerinnen und Sänger bereits mit der Musik und ihrem Ausdruck beschäftigt sind. Er nimmt deren Achtsamkeit und Konzentration wahr, die durch seine eigene Sammlung und Zentrierung noch einmal verstärkt werden. Dieser Moment der Verdichtung ermöglicht ein ganz anderes Musikerleben für alle Beteiligten: für ihn selbst, für die Choristinnen und Choristen und für das Publikums. Es geht nun wirklich um die Musik.
Die Praxis. Zu schwierig für Laien?
Sie werden nun als Chorleiterin und Chorleiter einwenden, dass Ihr Chor nicht dazu in der Lage ist, sich für 30 Sekunden einen Akkord zu merken oder die Töne aus dem Chor heraus anzugeben. Als Chorsängerin oder Chorsänger werden Sie Ihrer Sorge Ausdruck verleihen, dass diese Aufgabenstellungen doch viel zu schwer für Sie als Laie sind. Dem möchte ich entgegenhalten, dass in meiner inzwischen über vierzigjährigen Tätigkeit als Chorleiter diese Schwierigkeiten mit einigen kleinen Übungsschritten stets aus der Welt geräumt werden konnten und ein Vertrauen in die Fähigkeiten des Chores bzw. in die eigenen Fähigkeiten aufgebaut wurde. Dieses Vertrauen zu entwickeln ist – abgesehen von der Tonangabe zu Beginn eines Stückes – auch für das gesamte musikalische Empfinden und das Selbstverständnis eines Chorsängers wichtig. Lassen Sie mich kurz ein paar Übungsschritte beschreiben, der Einfachheit halber aus Sicht des Chorleiters.
Zwei einfache Fertigkeiten
Zwei Fähigkeiten stehen im Zentrum. Die eine ist das Tongedächtnis und die zweite die Fertigkeit, sich in einer Harmonie zu bewegen. Beide können Sie mit Akkordübungen entwickeln. Zuerst lassen Sie Ihren Chor auf einem einzelnen Ton in ruhigem Tempo eine Vokalfolge singen wie LA E WI O DU (legato). Als zweiten Schritt lassen Sie einen einfachen Dur-Dreiklang singen, indem Sie den Chorstimmen ihre Töne vorgeben. Jetzt lassen Sie einen Durchgang auf dem Grundton und einen zweiten auf dem Akkord singen. Eine andere Variante ist, die Dreiklangstöne wechselnd auf die verschiedenen Vokale zu singen, entweder, indem Sie dem Chor eine feste Reihenfolge vorgehen, oder indem Sie es den einzelnen Chormitgliedern überlassen, welche der Dreiklangstöne sie auf welchen der Vokale singen wollen. Dann können Sie die Dreiklangstöne auf die Chormitglieder verteilen, wobei jedes Chormitglied einen anderen Ton singt als sein Nachbar. Je nach Übungstand eines Chores mag dies am Anfang etwas schwierig sein, wird aber in der Regel nach kurzem Üben auch funktionieren. Sie lassen dann die Vokalfolge (diese bitte gerne verändern) einmal in der Akkordform singen, das zweite Mal auf dem Grundton, das dritte Mal wieder in der Akkordform. Oder Sie lassen beim ersten und beim dritten Mal den Akkord und beim zweiten Mal eine sich möglichst stark reibende (frei zu findende) Dissonanz singen. Das Tongedächtnis funktioniert in der Regel nach ganz wenigen Übungsschritten hervorragend.
Das Bewegen in der Harmonie können Sie verfeinern, indem Sie nicht nur Dreiklänge, sondern auch Sext-, Sept- und Non-Akkorde verwenden, entweder als statischen Klang, bei dem jeder Chorsänger bei seinem Ton bleibt, oder als bewegende Form, bei der jeder aus dem Tonvorrat der Harmonietöne in freier Folge auswählen kann. Wenn Sie nun ein bekanntes Chorstück haben, genügt es den Grundton anzugeben, und die Chormitglieder werden sofort ihren Anfangston finden. Probieren Sie das im nächsten öffentlichen Konzert aus.
Stimmgabel im Chor
Wenn der Chor den routinierten Umgang mit Tongedächtnis und Orientierung in der Harmonie gefunden hat, brauchen Sie sich als Chorleiter nur noch der Rolle des Tonangebers entledigen, d.h., ein Chormitglied oder nach Möglichkeit mehrere geben den jeweiligen neuen Grundton von der Stimmgabel an. Das geschieht dann tatsächlich unhörbar fürs Publikum während des Beifalls vom vorigen Werk oder, wenn es eine Pause ohne Beifall gibt, so leise, dass es möglicherweise niemand mehr im Saal hören kann. Machbar ist es natürlich auch, vom (intonationsreinen) Schlussakkord eines Stückes aus den neuen Anfangsakkord zu finden.
Bewussteres Singen und intensivere Interpretation
Sie werden beobachten, dass die Sängerinnen und Sänger mit einer vielen größeren Selbstsicherheit ihre Stimmen gestalten. Insbesondere das allein-Singen von Tönen während der Akkordübungen stärkt die individuelle Sicherheit erheblich. Das kommt dem Chorklang zugute, verändert aber auch die Qualität der Interpretation. Denn jedes Chormitglied singt nun in einer erhöhten Präsenz und Selbstsicherheit auch bezüglich der Aussage des Werkes. Ihr Chor wird nicht nur technisch sicherer singen, sondern wird auch besser und intensiver interpretieren. Was wollen Sie mehr?
Kernsätze
- Die Tonart einer Komposition ist ein wesentliches Element ihrer Aussage (und sollte deshalb nicht vorab erklingen)
- Die Gesamtwirkung einer Komposition hängt wesentlich von der Ein-und Ausschwingphase ab, also dem bewussten Gestalten der Zeit vor und nach dem Werk
- Die Tonangabe ist nicht Bestandteil der Aufführung (und sollte deshalb unhörbar und vor der Einschwingphase erfolgen)
- Das Tongedächtnis und die Fähigkeit, sich in Harmonien zu bewegen, lassen sich leicht trainieren
- Die Angabe des Tones von der Stimmgabel aus dem Chor heraus ist nicht so schwer zu trainieren wie man glaubt
- Die Töne eines neuen Stückes können häufig aus dem Schlussakkord des alten Stückes abgeleitet werden
- Durch den bewussten Umgang mit diesen Fragen verändert sich die Qualität des Musizierens und die Intensität des Ausdrucks, da die Chorsängerinnen und Chorsänger mit mehr Sicherheit und Selbstvertrauen singen