Ich finde, die Sprache hat sehr gelitten. In den letzten 2 Jahren. “Bloße Worte gleichen Treibsand”, schreibt Richard Rohr in seinem beeindruckenden Buch Pure Präsenz (München 2010, S. 98). “Erfahrung ist das einzige Seil, das uns zugeworfen wird.” Das ist ein Hoffnungsschimmer.
Worte auf der Goldwaage
Wir dürfen also unsere Ohren und unsere Herzen und unser Empfinden darauf ausrichten, welche Erfahrungen aus den Worten der Menschen sprechen. Hören wir Dankbarkeit? Hören wir Freude? Hören wir Anteilnahme? Hören wir die Verbundenheit des Sprechenden mit sich selber?
Ich wünsche mir so sehr, dass wir in kleinen Schritten hin zu einer wirklichen, ehrlichen und zugewandten Kommunikation fortschreiten. Dass wir achtsam mit unseren Worten umgehen, gerne die Worte auf die Goldwaage legen, um ihre feinste Bedeutung auszuloten. Dass wir in einem lebendigen Kontakt, mit einfühlsamen Interesse unsere Zuhörer wahrnehmen, um die Wirkung unserer Worte zu verstehen. Dass wir, wenn wir Zuhörende sind, mit dem Herzen hören, die Emotionen unserer Gesprächspartner wahrnehmen, und uns erfreuen, wenn wir mitschwingen.
Worthülsen und Gesundheit
Wie begegne ich der unfassbar grenzenlosen Sprachlosigkeit in den uns fast überwältigenden Worthülsen? Wo bleibe ich selber in dem Katastrophenvokabular meiner Mitmenschen? Wo finden wir Halt und Orientierung?
Manche Menschen kultivieren ihren Garten, andere gehen spazieren, genießen die Wälder, wieder andere werden in lang aufgeschobenen Hobbys aktiv, andere treten in eine intensive Auseinandersetzung mit ihren Freunden, arbeiten an ihrem Selbsterforschungsprozess weiter oder schreiben ein neues Buch. Allen gemeinsam ist, scheint mir, dass durch das Tun die Ohnmacht gemildert oder sogar vermieden wird. Gesundheit kann sich einstellen, so Viktor Frankl (1905-1997, österreichischer Psychiater), wenn Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit vom Individuum in schwierigen Situationen erfahren werden können. Bewusstes Sprechen kann da helfen.
Kohärenz und drei Siebe
Seit Jahren setze ich mich mit Sprache und vor allem der Kohärenz von Körper, Stimmklang und Wortbedeutung auseinander. Vielleicht ist es unser aller Chance, nach diesen bald zwei sehr schwierigen Jahren in einen Entfaltungsprozess einzutreten, der eine wirkliche zugewandte Kommunikation fördert. Indem sich das Ich authentisch in übereinstimmendem Schwingen von Stimm-Emotion, Körper-Ausdruck und tiefer Wortbedeutung ausdrückt, werden die anderen Menschen zum Mitschwingen angeregt. Das ist eine große Vision.
Diese sehr fordernde Arbeit fängt bei mir selber an. Ich prüfe für mich die öffentlich gehörten Worte auf Genauigkeit, emotionale Dichte und Tiefgang. Und sage statt Impfdurchbruch: eine Person ist nach der Impfung dennoch an Corona erkrankt. Das klingt weniger dramatisch, beschreibt konkrete Erfahrungen und schürt nicht die Angst. Ich sage nicht Verkehrschaos, sondern: ein Stau von 20 Minuten auf der A4. Schon Sokrates (469 v. Chr. bis 399 v. Chr., Philosoph in Athen) wusste um diese Phänomene und brachte sie in das Bild der drei Siebe, mit denen er eine Information filterte. Sie sollte wahr, gut und notwendig sein, bevor er sie aussprach.
Tratsch-frei
Das mag sich im ersten Moment etwas theoretisch anhören. Es führt aber zu etwas ganz besonderem, wenn ich frage: ist es wahr, ist es gut (und hilfreich) und ist es wichtig und notwendig, dass ich das jetzt sage. Ich werde, wenn ich dann spreche, mit einer ganz anderen Sicherheit und Überzeugung sprechen. Die Worte haben vor meiner inneren Prüfung Bestand gehabt. So teile ich den Menschen Richtiges und Notwendiges mit, und trage damit zu einer wesentlichen und ehrlichen Kommunikation bei. Der Tratsch erhält kein Futter.
Ehrliche Identifikation
Ich kann dadurch auch für mich vermeiden, dass ich mich mit Halbwahrheiten identifiziere. Man hört etwas, es erscheint einem schlüssig, und man verkündet ist als die eigene Wahrheit. Statt redlicherweise zu sagen, ich habe von XY gehört, dass… Ich sollte mich nur mit dem identifizieren, hinter dem ich wirklich stehe.
Jenseits der Worte
Und so kann ich auch zuhören. Ich lasse mich auf die Worte meines Gegenübers ein, ohne zu urteilen und ohne sofort darüber nachzudenken, was ich darauf erwidern könnte. Sondern bleibe ganz bei der Person, versuche nachzuempfinden, welche Bewegungen sie innerlich hat, was sie motiviert. So verstehe ich am ehesten, was mir die Personen jenseits der Worte mitteilen will.
Ohne Seil bin ich raus
Und dann kann ich entscheiden, ob ich den Gedanken weiter verfolge, ob ich mit der Person in eine Gespräch eintrete, oder ob ich weiterziehe. Denn ich habe eine hohe Verantwortung meinem Gefühlsleben gegenüber und bestimme, womit ich mich beschäftige und was mir gut tut. Nur ich sollte entscheiden, wie es mir geht, keinesfalls aber andere Menschen, die vielleicht wortgewaltig und geschickt demagogisch zu mir sprechen. Die mich aber nicht erreichen, die es nicht schaffen, um im Bild von Richard Rohr zu bleiben, mir das Seil ihrer Erfahrungen zu zu werfen. Und dann bin ich raus.